Magnus Kriegeskort

  In dem Zen-Klassiker Wumenguan (jap. Mumonkan) heißt es: „Wenn man es auch malt, es wird nicht gemalt. “ Mit „es“ ist hier ein vor und außerhalb aller sinnlichen Erfahrung liegendes Ursprüngliches gemeint, genauer das ursprüngliche Antlitz eines Menschen vor der Geburt. „Es“ kann nicht gemalt werden. Es ruht in einem spirituellen Raum, wie auch Meister Eckharts Rose, die „in Ewigkeit also geblüht“ hat. Dass es aber doch in seinen Wirkungen zu spüren sein kann, zeigen die ganz einzigartigen Bilder Yokoo Tatsuhikos.

  Meister Yokoo ist künstlerisch einen langen Weg gegangen: von Japan nach Europa zuerst und dann, sozusagen auf einer höheren Stufe, nach Japan zurück. Von dieser Rückkehr zu den Wurzeln zeugen seine Bilder der letzten beiden Jahrzehnte.

  Sie sind bestimmten Formen moderner westlicher Kunst verwandt: Malerei als Spur einer Aktion oder Bewegung.

  Sie sind jedoch auch tief verankert in einer fernöstlichen Maltradition, der sogenannten Zen-Malerei, einer im 12. und 13. Jahrhundert in China entwickelten Form der Tuschemalerei, die später ihren Weg nach Japan fand.

  In dieser Malerei pflegten Meister des Zen-Buddhismus unmittelbar nach der religiösen Meditation für ihre Schüler eine Tuschespur aufs Papier zu setzen, in der sich ihr neu erreichter Bewusstseinszustand spontan und nicht weiter vermittelt zeigte; sie versuchten, in einem nicht durch das Bewusstsein gesteuerten Akt die Striche eines Schriftzeichens, später auch anderer einfacherer Formen wie etwa eines Kreises, oft mit dickem Pinsel, in einem Zug hinzusetzen, um auf diese Weise etwas von dem, was während der Meditation mit ihnen geschehen war, sich ausdrücken zu lassen.

  Meister Yokoos Bilder sind auf ebendiese Weise entstanden. Nach einer Phase der Meditation, d. h. der Konzentration und Sammlung, der weitgehenden Befreiung von Gefühlen, Sehnsüchten, Frustrationen, des sich Leer-Machens, wird in einem meist sehr raschen Zug - zuweilen in ekstatischem Gestus unter Einsatz des ganzen Körpers - die zentrale Spur ins Bild gesetzt. In einem zweiten Akt wird diese Spur dann bewusst fein bearbeitet, ohne den Anfangsausdruck zu verfälschen, wobei dann auch die im Lauf eines Künstlerlebens gewonnenen künstlerischen Erfahrungen wirken.

  In diesen Bildern finden sich wesentliche Elemente chinesisch-japanischer Tuschemalerei: der ausdrucks-starke Pinselstrich, der in der Kalligrafie entwickelte Ausdrucksmöglichkeiten nutzt, ein Hang zu Monochromie, zumeist in Richtung auf naturhaft erdige Töne, bedeutsame Bereiche der Leere, gerade im Zentrum großer Dynamik.

  Bei Meister Yokoos Bildern handelt es sich also um moderne Zen-Malerei. Ebenso wie ihren ehrwürdigen Vorgängern scheint ihnen eine gebändigte Kraft innezuwohnen, eine Spannung von Ruhe und Bewegung, von Leere und ausdrucksstarker Spur der unvermittelten Aktion. Wie der Künstler im Akt körperlich und geistig ergriffen war, so ergreifen sie den Betrachter direkt; was unmittelbar da ist, berührt unmittelbar. Alles fließt in ihnen, die Linienspuren weiten sich zu Flächen, explosionsartige Bewegungen aus einem Zentrum heraus lassen sie wirken wie gewachsen, nicht wie gemalt.

  Was ist es aber nun, das sich in ihnen unter Ausschaltung des Bewusstseins ausdrückt?

  Es ist nicht eine momentane Gestimmtheit, eine bestimmte Gefühlslage, die Bilder sind keine individuellen Psychogramme. Gerade erst die Befreiung von solchem Psychischen macht sie möglich, es ist die Natur selbst, die sich durch die in der Meditation gewonnene Leere des Bewusstseins hindurch zeigt; sie ist im fernöstlichen Verständnis nicht bedrohlich, eruptiv-chaotisch, unberechenbar, sondern vielmehr harmonisch, ausbalanciert, wohlgeordnet, wenngleich von großer Kraft.

  Nicht unmittelbar im strengen Sinn, allerdings nicht verfälscht durch ein individuelles Bewusstsein, nur in ihren Spuren auf der Leinwand zeigt sich uns die Natur, als Energie, das Göttliche in uns, und indem sie Zeugnis gibt von diesem Über-Individuellen ist Meister Yokoos Malerei religiöse Malerei. Sie vereinigt in sich Elemente asiatischer und europäischer Traditionen, die der Künstler auf seinen Wegen aufgenommen und verarbeitet und in seiner Kunst zunächst in eher fantastischer figurativer Malerei, dann - bis heute - in eher fantastischer abstrakter Malerei zur Wirkung gebracht hat. Sie zieht Kraft aus beiden Kulturkreisen und vermittelt sie einander im besten Sinne.